
Taneda Santōkas Poesie spricht auch 2025 zu uns, weil sie radikal ehrlich ist, existenziell einfach, nichts erzwingt und keine Antworten vorgibt. Genau das fehlt in unserer Zeit. In einer Welt, die von Informationsflut, ständiger Selbstoptimierung und digitaler Reizüberflutung geprägt ist, zeigt uns Santōka, dass es auch anders geht: das Gehen ohne Ziel, das Sehen ohne Ablenkung, das Akzeptieren ohne Widerstand.
Seine Haiku handeln nicht von großen Ideen oder komplizierten Gedanken, sondern vom Moment selbst. Regen, der einen durchnässt; Wasser, das man trinkt; Blätter, die fallen und nicht fallen. Sie feiern das Leben in seinen harschen und manchmal bitteren Momenten.
Bitte beachte die veränderte Rechtschreibung. Um Santōkas kargem Stil gerecht zu werden, verzichte ich auf die meisten Satzzeichen und einen Teil der Großschreibung. Das gilt selbstverständlich nur für die Haiku.
In seinen Versen spiegelt sich eine einzigartige Mischung aus Einfachheit, Ironie und tiefer Verbundenheit zur Natur wider. Santōkas Werke sind modern, klar und durchdrungen von einer melancholischen Akzeptanz des Lebens. Sie sind das bleibende Vermächtnis eines Nonkonformisten und Außenseiters.
月が昇つて何を待つでもなく
tsuki ga nobotte nani o matsu demo naku
der Mond steigt auf –
ich erwarte
nichts
Die Haiku von Santōkas haben nicht selten eine fast resignierte Stimmung. Es gibt aber auch Momente von stiller Freude und Anflüge von Glück. So vereinen seine Haiku oft scheinbar gegensätzliche Stimmungen. Sie spiegeln die Tragik eines gescheiterten Lebens wider und wirken dabei zutiefst menschlich und ehrlich.
雪へ雪ふるしづけさにをる
yuki e yuki furu shizukesa ni oru (1933)
Schnee fällt auf Schnee –
in der Stille
bin ich
Trinken / Sternhagelallein
一杯やりたい夕焼空
ippai yaritai yūyake-zora (1931)
ein Schluck
Sake jetzt …
roter Abendhimmel
ぼろ売って酒買うてさみしくもあるか
boro utte sake kōte samishiku mo aru ka
Lumpen verscherbelt,
Sake gekauft –
und trotzdem einsam?
yoenakunatta mijimesa wa kōrogi ga naku
nicht mehr trinken können –
in all dem Elend
zirpen Grillen
酔いざめの風のかなしく吹きぬける
yoi zame no kaze no kanashi-ku fuki nukeru
Ernüchterung –
ein trauriger Wind
weht durch mich hindurch
Wandern / Kein Ziel, kein Halt
秋風あるいてもあるいても
aki kaze aruite mo aruite mo (1939)
Herbstwind –
ich gehe
und gehe
降るままぬれるままで歩く
furu mama nureru mama de aruku
Es regnet,
ich werde nass –
ich gehe.
歩きつづける彼岸花咲つづける
arukitsuzukeru higanbana sakitsuzukeru
Ich gehe weiter –
die Totenblumen
blühen allweil.
雨だれの音も年とつた
amadare no oto mo toshi totta
selbst der Klang
der Regentropfen
ist alt geworden